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Interview: SCORPIONS
Titel: Der letzte Stich

Was für ein bewegender Gegensatz: Während ihr neues bravouröses Überraschungsalbum „Sting In The Tail” in Sachen Verkaufszahlen gegenwärtig bereits Goldstatus (!) erreicht hat, bereiten sich die rühmlich standhaften Hannoveraner Hardrocker auf ihre anstehende umfangreiche Welttournee vor. Die letzte, wohlgemerkt. Ein mehr als würdiger Abgang für eine heimatlich beispiellose Weltkarriere.

Laut aktueller Medienstatistik stellt diese als krönende Abschlussplatte gedachte Veröffentlichung das erfolgreichste Scorpions-Album seit ganzen 20 Jahren dar. Hinsichtlich des hohen Durchschnittsalters der Bandmitglieder im wahrsten Sinne des Wortes eine reife Leistung.

Tatsächlich kann man sich selbst als langjähriger begeisterter Anhänger dieser linientreuen deutschen Szene-Urgesteine des wohltuenden Eindrucks nicht erwehren, dass sämtlichen zwölf neuen Kompositionen auf „Sting In The Tail” soviel mehr Leidenschaft, Liebe und Können innewohnt, als sich die Hörer dieser Musiksparte für die nächsten Dekaden von der mannigfaltigen Konkurrenz überhaupt erhoffen dürfen.

Gegründet 1965 in Sarstedt, also mitten in der Blütezeit der herrlich ereignisreichen Beat-Ära, stellt die weltbekannte Vorreitergruppe um Sängertalent Klaus Meine in der Tat eine gefährlich kurz vorm Aussterben begriffene Raritätenspezies in der gesamten bekannten Rockwelt dar.

Denn es erübrigt sich wohl absolut, darüber auch nur ansatzweise zu diskutieren, welche von den neuzeitlich musikindustriell inflationär verschleuderten Genre-Repräsentanten „ihren“ Sound mit allem idealistischem Mut und aller kreativen Kraft ganze 45 Jahre lang durchziehen werden.

Doch derzeit glänzt der künstlerisch glücklicherweise wieder riesenhaft hoch aufgestellte, kompositorisch nadelspitze Skorpionstachel noch mit aller Spielfreude. Und auch die Laune von Kehlenkönner Klaus Meine hätte beim angeregten Interviewgespräch kaum besser sein können.

„Diese neuen Songs sind ehrlich gesagt mit einem ganz großen Maß an Lockerheit entstanden“, weiß mir der stimmbandstarke Hannoveraner mit aller Entspanntheit zu berichten, um nachfolgend gleich noch ein wenig zu resümieren. Er erinnert sich zurück:

„Wir kamen 2007 aus der letzten Albumproduktion für die Platte `Humanity`, die Desmond Child in Amerika gemacht hat und die dementsprechend auch eine sehr amerikanisch klingende Veröffentlichung ist. Beteiligt waren daran ja auch viele Songwriter etc. aus den Staaten, was das Endergebnis zusätzlich in besagte Richtung brachte. Nicht lange danach überlegten wir uns ganz bewusst, als nächstes ein ganz spezielles Album machen zu wollen, welches eindeutig zurück zu unseren Wurzeln geht sowie auch mit einem urtypischen europäischen Sound versehen ist – vergleichsweise schnell waren wir uns dann darin einig, diesen Plan auch so kompromisslos als überhaupt möglich durchsetzen zu wollen.“

Gesagt, getan – und alsbald nahmen sie im Zuge dessen Kontakt mit guten alten Bekannten auf, so Klaus. „Wir entsannen uns unserer schwedischen Freunde Martin Hansen und Mikael Nord Andersson, mit denen wir auch schon vor ein paar Jahren schon sehr gut zusammengearbeitet hatten beziehungsweise mit denen wir in einer überaus ergiebigen Songwriter-Session zugange waren. Wir wollten nichts erzwingen, wollten uns ganz einfach mal ganz locker mit den beiden treffen und sehen, was dabei herauskommt. Die anschließende Kooperation mit ihnen hat uns sehr viel Spaß gemacht – zumal sie auch ganz genau verstanden hatten, in welche musikalische Richtung wir für `Sting In The Tail` wollten.“

So ging es den beteiligten Musikern nämlich darum, wie der Sänger hierzu anschließend expliziert, die urtypische Scorpions-Dynamik zu reaktivieren:

„Wir wollten uns diesmal keinen `Produzentenstempel` aufdrücken lassen – gerade mit Desmond war dieser Kontext ja auf `Humanity` doch sehr deutlich zum Tragen gekommen. Auf all das wollten wir diesmal komplett verzichten – sondern einfach gesagt ein Album machen, welches so straight als möglich nach vorne geht und bei dem vor allem die Spielfreude im Vordergrund steht. Und bei dem natürlich auch das bewährte Komponistengespann Schenker/Meine wieder nach vorne gebracht werden soll. Und nebenbei, so dachten wir währenddessen, könnten somit auch die großen Erwartungen all der Fans erfüllt werden.“

Somit zeichnen Sänger Meine und Gitarrist Rudolf Schenker für einen Großteil des neuen Songmaterials auf „Sting In The Tail“ verantwortlich, wie in Erfahrung zu bringen ist. „Nicht vergessen darf dabei auch werden, dass diesmal um einiges mehr an kreativem Input von der gesamten Band an sich kam, was mich und Rudolf sehr effizient beeinflusst hat. Additional hinterließen erwähnte beiden Schweden auch ihren kreativen Abdruck, was zu einer sehr runden Mischung an Liedmaterial geführt hat – also gar nicht zu vergleichen mit dem Vorgängeralbum. Zudem entschieden wir uns, die neue Scheibe wieder `zuhause` zu produzieren, also in Hannover – lediglich meine Lead-Vocals wurden in Stockholm gemacht. Weitestgehend arbeiteten wir also hier zuhause und konnten uns wie erwähnt ganz entspannt der neuen Veröffentlichung widmen – konnten somit alles aus den Songs rausholen was für ein Scorpions-Album wichtig ist.“

Ziel erreicht, bleibt einem da nur zu sagen.

Denn ein so derart belebend frisch und simultan dabei so urwüchsig und eingängig anmutendes Endprodukt wie „Sting In The Tail“ hätten sich wohl die Wenigsten aus den Reihen der Fans und Musikmedien erwartet.

Andererseits steht der verkündete Abschiedsentschluss in der Band felsenfest, wie der Sänger einmal mehr mit aller Klarheit verdeutlicht – eben, dass dieser 17. Langspieler unwiderruflich das allerletzte Album der Hannoveraner Institution sein wird.

„Rudolf und ich werden dieses Jahr 62, daran lässt sich halt nun mal nichts rütteln. Wir zwei sind zwar im Herzen jung und wollen das auch noch bleiben, dennoch sind wir realistisch genug für eine Hardrockband, die mit sehr viel Energie auf die Bühne geht, das irgendwann der ganz natürlich Punkt kommt, an dem man besser auf die Zielgerade einbiegt. Und als wir während des Entstehungsprozesses zu `Sting In The Tail` nach und nach immer mehr bemerkten, wie stark diese Scheibe doch eigentlich wirklich wird, fühlten wir uns viel besser mit unserer dabei einher gegangenen Entscheidung. Denn uns ist es im Kollektiv eindeutig viel lieber, wenn nun die vielen Fragen kommen, warum wir aufhören als wenn überall zu lesen wäre, wir hätten unsere Karriere besser schon vor zig Jahren beenden sollen.“

Somit setzen die global noch immer immens beliebten Hitlieferanten der einzigartigen Gattung „Scorpiones Rockas Melodicus“ laut Aussage von Klaus doch lieber einen kräftigen Schlusspunkt mit einer anschließenden Tour, welche sie noch einmal zweieinhalb Jahre um die ganze bekannte Welt führt. „Die hauptsächliche Intention, die dazu zu nennen wäre, ist, das Kapitel Scorpions mit Klasse und Stil abzuschließen.“

Bleibt die Frage, wie sehr dem Vokalisten der Großmeister der Powerballade der ganze Rock’n’Roll-Zirkus nach so langer aktiver und höchst erfolgreicher Mitwirkenszeit am Ende doch eigentlich abgehen wird.

Klaus, auch hierbei mit herzlichem Tonfall in der Stimme, gibt genussvoll lachend zu Protokoll:

„Nun, momentan schweben wir in der Band allesamt natürlich noch auf einer Art Welle der Glückseligkeit, weil wir extrem positives Feedback auf das neue Album bekommen. Die ersten Shows haben wir ja zu `Sting In The Tail` auch bereits gespielt, beispielsweise eben in der ausverkauften O2-World in Prag sowie in Moskau – konnten also schon wieder richtig frische Live-Luft schnuppern. Freilich ist das alles sehr emotional für uns – und wir haben ja auch die nächsten beiden Jahre noch einen langen Weg zu gehen, auf den wir uns sehr freuen. Als wir beispielsweise kürzlich in Moskau am dortigen Flughafen ankamen, empfingen uns die dortigen Fans auf sprachlos machende Weise: Sie ließen `Rock You Like A Hurricane` aufspielen, brachten Banner, Blumen und Geschenke für uns mit – ich muss schon sagen, da hatte ich hinsichtlich unserer erwähnten Planung für das Ende der Band einen dicken Kloß im Hals. Da wurde mir schlagartig ganz klar, dass, spätestens nach Abschluss der anstehenden Welttournee über uns alle ein ganz spezieller Moment kommen wird – und dieser Moment wird ziemlich heftig über uns hereinbrechen.“

Zweifellos. Doch kann man sich als dermaßen außergewöhnlich langjährig aktive Band aus dieser immer noch schnelllebigeren Sparte, zumal mit einem solchen Lebenswerk im Handgepäck, um einiges leichter zurücklehnen als manche andere. Klaus hierzu:

„Ja, diesen Grundgedanken tragen wir zum Glück auch tief ins uns. Und ich weiß ehrlich gesagt gar nicht so genau, ob wir unseren Entschluss des Aufhörens wirklich auch so leicht gefällt hätten, wenn `Sting In The Tail` nicht ein so gutes Album geworden wäre – das Ganze hat also schon direkt auch mit dem Album an sich zu tun. Zu vergleichen ist das meiner persönlichen Ansicht nach eigentlich ganz direkt mit einem berühmten Sportler, der noch einmal eine Olympiade oder Weltmeisterschaft in seiner Disziplin in Angriff nimmt, um ein letztes Mal ruhmreich den Titel nach Hause zu holen, um danach aufzuhören. Eigentlich genau gesagt ein alter Traum – genau nach dem obersten Höhepunkt zum besten Zeitpunkt aufzuhören.“

Zusätzlich, so bringt sich Klaus in den unterhaltsamen Dialog ein, profitiert man im Hause Scorpions derzeit natürlich auch noch von einem heftigen neuen Wind, der seit einiger Zeit wieder sehr günstig für Classic Rock an sich steht. Wir erfahren:

„Für mich steht dabei ganz eindeutig fest: Hätten wir vor zehn Jahren alles hingeschmissen, hätte da doch kein Hahn danach gekräht. Von daher sind wir schon auch sehr froh, wie günstig die Dinge momentan für uns stehen.“

Denn grundsätzlich, so der Frontmann im Weiteren in aller zu vernehmenden inhaltlichen Tiefe, ist es für heutige neue Rockbands gleichzeitig leichter und auch schwieriger geworden, sich mit ihrer Musik zu etablieren.

Klaus konkretisiert mit lange geschultem Metier-Scharfsinn:

„Das Phänomen Rockmusik hat ja mittlerweile auch die Zielgruppe der ganz jungen Leute direkt erreicht – die eigentliche Herausforderung wird allerdings dann darin bestehen, damit auch irgendwann gefestigt in der Erwachsenenwelt anzukommen. Grundsätzlich können ja heutzutage allein schon mit einem auffälligen Look übers Internet unzählige Menschen blitzschnell erreicht werden – das funktioniert relativ leicht. Doch man muss dabei auch musikalisch natürlich immer wieder gut nachlegen – und schwieriger ist es eben darin geworden, weil ja im gesamten Musikbereich an sich fast gar nichts mehr von Anfang an gezielt darauf angelegt ist, für viele, also zehn bis zwanzig Jahre, gleichwertigen Bestand zu haben. In den nächsten Jahren wird leider eine bestimmte Generation von etablierten Bands und Künstlern aus dem Markt weg brechen, wie beispielsweise AC/DC oder Ozzy Osbourne, die wie wir auch in den späten 60ern angefangen haben Musik zu machen und die auch von dem bestimmten (Lebens)Gefühl namens Revolution getragen wurden. Ja, es war damals schon noch primär revolutionär – gegen das Elternhaus etc. Wir beispielsweise wollten aus dem Mief der eigenen vier Wände ausbrechen – und die Bühnen dieser Welt erobern.“

Die Welt ist heute aber laut ergänzender Aussage von Klaus im übertragenen Sinne so viel kleiner geworden. „Als wir damals anfingen, war es beispielsweise unvorstellbar, mal eben für Auftritte nach Amerika zu fliegen oder in Japan Konzerte zu geben. Heutzutage fliegt eigentlich jeder Student dorthin. Ich erinnere mich dazu noch ganz genau: Ich selbst konnte es nämlich nicht glauben – erst, als ich mit den Scorpions selbst da war. Es war eine ganz andere Zeit. Von daher ist es gegenwärtig schon ziemlich schwierig geworden, mit Musik längeren Erfolg zu haben. Doch ich wünsche den jungen Leuten mit viel Hoffnung im Herzen, dass sie `ihre` Musik beziehungsweise ihre jungen Bands und Künstler finden, die dem Zeitgeist entsprechen. Dennoch, von Deutschland aus eine Weltkarriere zu starten, wird sich als äußerst schwierig gestalten. Wir haben in all den Jahren, die wir nun schon dabei sind, nicht allzu viele erleben dürfen, denen das geglückt ist.

Daher wird die Scorpions-Story, so denkt der Vokalist, also die Geschichte einer Band, welche die Beteiligten durch mehr als vier Jahrzehnte geführt hat und welche sie durch alle denkbaren Höhen und Tiefen leitete, für Nachfolgende beileibe nicht mehr so einfach zu wiederholen sein. Der Mann finalisiert:

„Wir treten heutzutage ja nun schließlich von einer globalen Bühne ab. Dafür zuständig war nicht zuletzt die von Anfang an hartnäckig verfolgte Vision, irgendwann zu den Allerbesten zu gehören. Und dabei darf man auch einfach nicht vergessen, dass das deutsche Feuilleton uns eigentlich nie geliebt hat – vor allem die Musikzeitschriften, die hierzulande in den 70ern eine maßgebliche Rolle spielten, die uns gleich sehr schnell in die Hardrock-Ecke stellten. Heute ist das wohl überall `Kult`, doch damals, in den Hochzeiten all der Kraut- und Progressive Rocker glich das ja wirklich einem Schimpfwort – und die seinerzeitigen Reviews waren auch alles andere als aufbauend für eine junge aufstrebende Band wie uns. Ich erinnere mich beispielsweise, wie damals wirklich mal über uns zu lesen war: `…tolle Platte – die passt nämlich genau unter meinen Schreibtischfuß, jetzt hat’s sich’s ausgewackelt…`. Doch letztlich hielten wir stets unbeirrbar durch. Und wir konnten uns mit großem Erfolg unsere Streicheleinheiten in der großen weiten Welt da draußen holen.“ Nicht umsonst lautet eine alte Weisheit: „Tu erst das Nötige, dann das Mögliche – und du wirst das Unmögliche schaffen“.

© Markus Eck, 23.04.2010

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